Was ist Postaktivismus?

Von Phillip Maiwald

Die Krise und wir

Die weltweite Klimakrise überfordert uns alle über die Maßen. Prinzipiell und eigentlich sind wir dazu bereit, etwas gegen die ökologischen oder sozialen Krisen der Gegenwart zu unternehmen. Wir neigen aber mit unseren herkömmlichen Formen des Protests und mit unserem Engagement offenbar dazu, diese Krisen eher zu reproduzieren.

Wir denken, dass unser Engagement zwar wichtig ist, uns aber nicht zu viel abverlangen sollte, schließlich wollen wir uns auch persönlich und  beruflich selbst verwirklichen.  Wer will schon freiwillig auf die eigenen Privilegien verzichten? Wir sind aber nicht nur aufgrund unseres Konsumverhaltens, sondern auch samt den Strukturen unseres Engagements – sogar samt den Strategien unseres Protests – Teil der Krise. Wir haben offenbar keine Probleme damit, bunte Fahnen, Luftballons und Banner aus Plastik günstig produzieren zu lassen, um dann ausgestattet mit diesen Materialien für den Erhalt der Umwelt zu demonstrieren. Wir fahren mit dem Geländewagen zum Bioladen und fliegen zu internationalen Klimakonferenzen. Wir wollen politisch korrekt und auf keinen Fall fanatisch oder gar undemokratisch sein. Wir wollen alles Mögliche  in aller Komplexität begreifen und am liebsten auch alles Wichtige möglichst basisdemokratisch innerhalb unseres Wirtschaftssystems entscheiden.
 Und auch diese Tatsache ist Teil der Krise. Denn wir vergessen offenbar immer wieder, dass wir selbst nicht nur Teil unserer demokratischen Gesellschaft, sondern auch Teil der Natur sind und dass diese eben  nicht nach demokratischen Grundsätzen agiert.

„Ich möchte zugunsten der Natur sprechen, zugunsten absoluter Freiheit und Wildheit – im Gegensatz zur Freiheit und Kultur im bürgerlichen Sinne -, und ich möchte den Menschen als untrennbaren Teil der Natur und nicht als Mitglied der Gesellschaft betrachten. Ich möchte einen extremen Standpunkt einnehmen, und zwar mit Entschiedenheit, denn Verfechter der Zivilisation gibt es bereits genug.“

Henry David Thoreau 1862 in seinen Essay „Vom Spazieren“

 Ungewissheiten aushalten

Zu den Idealen unserer Gesellschaft gehören heute auch Geschwindigkeit und Optimierung. Wir tendieren dazu, für jedes Problem möglichst schnell eine Lösung finden zu wollen. Wir wollen, dass unsere Lösungen funktionieren und uns Sicherheit bieten, denn das Ungewisse ängstigt uns. Aber auch unsere Neigung, jedes Problem schnell statt nachhaltig zu lösen und sich vor dem Ungewissen zu fürchten, ist Teil des globalen Problems. Wir sollten unsere Unsicherheiten, unsere Ängste nutzen, um die Dinge gelassener und genauer zu betrachten. Wir könnten lernen, mit Ungewissheiten konstruktiv umzugehen.

„Ungewissheit ist angemessen in den Belangen dieser Welt. Eine Gewissheit dessen, was wir anfassen und sehen können, ist nur selten gerechtfertigt, wenn überhaupt je. Aus allen Zeiten – von unseren frühesten Vorfahren an – welche Gewissheit ist geblieben? Und doch können wir nicht schnell genug neue Gewissheiten erdenken; wir suchen ihren Trost. Gewissheit ist der leichte Weg.“

Billy Knapp in The Ballad of Buster Scruggs

Wenn wir uns langsam und beharrlich auf den Weg machen und lernen, uns im Unsicheren einzurichten, können wir neue, nachhaltigere Lösungen erarbeiten und für mancherlei alte Antworten ganz neue Fragen finden.

Jenseits des Vorstellbaren

Wir sind also in vielen Aspekten unseres täglichen Handelns Teil der Krise und stellen im Grunde immer mehr fest, wie stark unsere kapitalistische, wirtschaftsliberale Kultur und unser tägliches Denken und Handeln von archaischen Ängsten um unsere eigene, unsichere Existenz geprägt ist. Nichts zu tun, wird unserem Bedürfnis nach Sicherheit aber nicht gerecht werden. Postaktivismus versucht deshalb Denkräume jenseits des bislang Vorgestellten zu etablieren, um an diesen oft wenig beobachteten Stelle unseres Denkens etwas mehr Licht ins Dunkel unserer Verstrickungen zu bringen. Denn genau diese Stellen können uns Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen, um neue Ansätze des Umgangs mit sozialen und ökologischen Fragestellungen zu entwickeln.

  • Postaktivismus bedeutet, nicht nur gegen ein äußeres Unrecht zu protestieren, sondern sich der eigenen Verantwortung auf allen Ebenen bewusster zu werden. Postaktivismus bedeutet, sich in den eigenen, hartnäckigen Konsumgewohnheiten zu hinterfragen und auch gegen sich selbst zu protestieren.
  • Postaktivismus bedeutet auch, bewusst für etwas zu protestieren; den Blick für die derzeitige Situation zu schärfen und an den zahlreichen vorhandenen Gegenentwürfen zum bereits Bestehenden anzuknüpfen. Postaktivismus ist an dieser Stelle inhaltlich eng mit den Ideen einer Postwachstumsgesellschaft verbunden. Letzten Endes ist der Begriff also Teil einer Wertedebatte darüber, wie wir in Zukunft zusammenleben können und wollen.
  • Zu den Merkmalen und Vorgehensweisen des Postaktivismus gehören – in Ergänzung zu empirischen und als naturwissenschaftlich gesichert geltenden Fakten – auch intuitive, künstlerische und meditative Techniken und Sichtweisen.
  • Darauf vertrauen, dass viele kleine Schritte etwas bewirken können ist Postaktivismus. Sofort und bei sich selbst zu beginnen ist Postaktivismus. Position zu beziehen ohne zu missionieren, ist Postaktivismus. Sich zu trauen, unsere kapitalistische Wirtschaftsweise zu hinterfragen ist Postaktivismus.
  • Es bedeutet nicht, besonders postaktivistisch zu sein, wenn die Dinge unnötig kompliziert und über alle Maße komplex dargestellt werden. Wir brauchen keinen immer kleinteiligeren, überintellektualisierten Diskurs darüber, was das Problem ist. Denn auch solch ein Diskurs kann schnell zu einem Faktor werden, der es uns schwer macht, in den wichtigen Fragen zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen. Wir wissen, was das Problem ist. Postaktivismus kehrt zum Einfachen und zum Überblick zurück.
  • Bei allen Aspekten der gegenwärtigen Krise gilt es, nicht nur auf die uns Menschen trennenden Sichtweisen und Verstrickungen hinzuweisen. Es gibt viele Aspekte, die über die kulturellen Unterschiede hinausgehen und uns Menschen in unseren Zielen global verbinden. Es gibt universelle Werte, auf die wir uns beziehen können. Den Planeten zu schützen um eine intakte Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen in allen Ländern der Erde und für kommende Generationen zu bewahren, kann solch ein gemeinsames Ziel sein.
  • Und Postaktivismus bedeutet, unserer Auffassung nach noch etwas anderes ganz Entscheidendes: Angesichts des Ernstes der weltweiten Krise sollten wir unbedingt jene unsichtbare Kraft anrufen, die uns allen wohl schon mehr als einmal aus einem verzwickten Schlamassel herausgeholfen hat: die heilende und befähigende Kraft des Humors.

Dämmerung

Es dämmert uns immer mehr, dass unser Wohlstand auf dem Rücken anderer gebaut ist und dass er gestohlen ist. Es dämmert uns, dass wir durch unsere privilegierte Lage eine besondere Verantwortung tragen. Es dämmert uns, dass wir in Zukunft mit anderen teilen müssen und dass wir es lernen sollten, zu verzichten und im Verzicht etwas Positives zu erkennen. Jedes Lebewesen lebt gern ein gutes und bequemes Leben. Wir müssen aber aufhören für unsere oft unsinnigen und zum Teil grotesken Annehmlichkeiten unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Dieses Ziel konsequent zu verfolgen, ist eine Herausforderung, aber auch etwas überaus Schönes, was an vielen Stellen der Gesellschaft bereits Realität wird, und auf das wir uns freuen sollten.

WELCHE FORM DES PROTESTS BRAUCHEN WIR?